Adrian sollte zu einer Bilderreihe einen eigenen kleinen Text schreiben. Er wollte das auch und ging stracks an die Arbeit, genau wie die anderen Kinder seiner Klasse. Im letzten Drittel ihres ersten Schuljahres kannten sie alle Buchstaben in Druckschrift und waren es gewohnt, Geschichten zu schreiben. So nannten sie das. Meine Praktikums-Studentinnen verteilten sich, um die Kinder zu beobachten. Adrian erlaubte mir, mich direkt neben ihn zu setzen und ihm genau auf die Finger zu schauen.
Adrian setzte seine Buchstaben sorgsam und entschlossen nebeneinander. Er hatte sie alle im Kopf und man sah ihnen an, dass seine Lehrerin Wert darauf gelegt hatte, dass für jeden Buchstaben der optimale Bewegungsablauf eingehalten würde. So hatte er sie alle erkennbar und verlässlich eingeübt.
Gestörte Buchstaben
Aber hin und wieder zögerte Adrian, spürbar unsicher, so als sei er plötzlich auf Glatteis geraten. Und der Buchstabe, den er dann aufs Papier setzte, war ungenau gestaltet, nicht eindeutig erkennbar. In den fertigen Wörtern fiel das nicht mehr auf, da hätte ich es wahrscheinlich gar nicht bemerkt. Schon gar nicht in seiner vollendeten Geschichte. Da sieht man als wohlmeinende Erwachsene nur das Gelungene, die kleine Erzählung auf dem Papier. Man freut sich für den Autor, man lobt ihn für seine Leistung. Und man sieht über Mängel von Einzelbuchstaben hinweg.
Nur weil ich neben ihm saß, hatte ich sein gelegentliches Zögern bemerkt und seine Unsicherheit gespürt. Welche Buchstaben hatten diese Störung verursacht? Es waren drei, die für Adrian offenbar so ähnlich aussahen, dass er sie nicht genau genug unterscheiden konnte: die Minuskeln r, n und h. Alle drei beginnen, richtig geformt, mit einem senkrechten Strich, dem ein Bogen nach rechts hin angesetzt wird. Am besten fährt man mit dem Stift die Senkrechte wieder hoch und biegt dann nach rechts um. Das ist bei allen drei Minuskeln gleich. Sie unterscheiden sich aber durch die Länge der Senkrechten und die Ausführung des Bogens. Das muss man verstanden haben, um sie sicher einüben zu können.
Was machte Adrian falsch? Er zog in allen drei Fällen einen Strich von unten nach oben und setzte dem einen Bogen an, und zwar von rechts nach links hin. Man konnte, wenn man einen so entstandenen Buchstaben einzeln betrachtete, nie so recht erkennen, welcher das sein sollte: r, n oder h? Und Adrian konnte sich nicht wie in allen anderen Fällen sicher sein, den richtigen Buchstaben verfertigt zu haben. Das war das Glatteis, das ihn so spürbar verunsicherte.
Wie konnten ausgerechnet diese drei Buchstaben der didaktischen Einwirkung seiner Lehrerin entgehen? Ich denke mir das so: Adrian hat vor der Schule seinen Namen eingeübt, und zwar mit nur einer Majuskel, dem A. Die folgenden Buchstaben – d r i a n – hat seine Mutter ihm als Minuskeln vorgeschrieben. Er hat alle sechs Zeichen abgemalt, ohne dass jemand auf seine Linienführung geachtet hätte. Wichtig war nur, dass man erkennen konnte, welcher Buchstabe jeweils gemeint war, und den Namen insgesamt lesen konnte. Vielleicht waren Adrian und seine Mutter, die mit ihm allein unter schwierigen Verhältnissen lebte, sogar stolz darauf, dass er seinen Namen nicht in Majuskeln schrieb wie andere Kinder vor der Schule. Adrian muss seinen Namen oft geschrieben und sich dabei die falsche Schreibweise von r und n so gründlich eingeübt haben, dass sie die spätere Anleitung seiner Lehrerin überlebte und noch auf das h abfärbte.
Dass es so gewesen ist, kann ich nicht beweisen. So etwas kann niemand beweisen. Aber es hat genau die Plausibilität, die LehrerInnen bewegen mag, in ihrem Unterricht ganz genau darauf zu achten, dass kein Kind Druck-Buchstaben mit einer falschen Linienführung sich angewöhnt oder beibehält.
Wozu eine angeleitete Schreibschrift?
Adrians Geschichte macht auch plausibel, warum die Kinder nach dem Erwerb einer handgeschriebenen Druckschrift eine gut angeleitete Schreibschrift brauchen, deren Minuskeln in bestimmter Weise geformt und verbunden werden wie bei der Lateinischen Ausgangsschrift LA oder der Schulausgangsschrift SAS. Es ist eine zweite Chance, alle Minuskeln genau zu unterscheiden. In Schreibschrift sind unsere drei Probleme – r n h – nämlich nicht mehr so leicht zu verwechseln.
Es wird Adrian sehr schwergefallen sein, r, n und h in Schreibschrift zu erlernen. Wie er sie bis dahin geschrieben hat, das hilft ihm jetzt nichts. Das stört und hemmt. Es geht nicht in den verbundenen Buchstaben auf. Seine Unsicherheit bei diesen drei Buchstaben schwillt an. Und da sie zu den häufigsten Buchstaben in deutschen Texten gehören, wird das oft spürbar. Das Kind weiß nicht, wie ihm geschieht. Es spürt ein wiederkehrendes Unbehagen, sobald es sich der Schrift zuwendet und einer dieser Buchstaben auftaucht, beim Schreiben und auch beim Lesen.
Wenn da nicht hilfreich eingegriffen wir, frühzeitig, entschieden, ermutigend und ausdauernd, dann kann sich eine Neigung zur Schriftvermeidung entwickeln und immer mehr verfestigen. Der Übungsrückstand gegenüber den anderen Kindern wächst und verstärkt die Neigung zur Flucht vor dem Schriftspracherwerb, eine Flucht aus einem Feld voller Unsicherheiten und Peinlichkeiten. Adrian braucht jetzt seinen Verstand und seine Umsicht für die Entwicklung von Strategien, um sein Unvermögen zu verbergen und ohne die erwartete Schreib- und Lesekompetenz einigermaßen zurechtzukommen – in der Schule und im Alltag.
Niemand kann anders als selber lernen
Niemand kann anders als selber lernen. Das ist für selbstdenkende LehrerInnen immer schon eine Binsenwahrheit gewesen. Sie konnten auch immer schon unterscheiden, wo ihre didaktisch motivierte Einwirkung auf die Lernenden nötig war und wo sie ihnen sozusagen aus dem Wege gehen mussten. Solche LehrerInnen gibt es immer noch. Sie verstehen sich auf die Kunst, lernende Kinder im Gleis zu halten, ohne sie durch zuviel Einwirkung zu hemmen oder durch zu wenig Einwirkung zurückzulassen. Und sie wissen, welche unterschiedlichen Bahnen die Lernenden je nach Lerngegenstand brauchen. Natürlich nicht immer nur Gleise. Auch schweifende Ausflüge über weite Felder und durchs Dickicht.
Dafür, dass dies, was ich so oft schon vorgetragen habe, nun aufgeschrieben ist, danke ich Gerhard Sennlaub. Er hat mir den Anstoß dazu gegeben, als er mir auf das Interview in der FAS vom 11. Mai hin schrieb:
„Ich hätte einen Vorschlag: Wer nicht mit seinen Ideen wenigstens einen einzigen Jahrgang zum Lesen- und Schreibenkönnen brachte, beteiligt sich nicht mehr an der Diskussion. Dann wäre Ruhe, und vielleicht könnten wir uns um unser Problem kümmern: Rund zwei Millionen Deutsche sind totale Analphabeten, mehr als dreimal so viele funktionale. Die haben wir gemacht. Die haben wir gemacht. Die haben wir gemacht.“
Man sucht seit Jahrzehnten die Ursachen für den Analphabetismus trotz Schulbesuch für teures Geld überall, nur nicht in fehllaufender Alphabetisierung in unseren Grundschulen. In der Antrittsvorlesung von Ursula Bredel an der Universität Hildesheim vom 7. November 2012 kann man dazu vieles lesen, was nicht nur Theoretiker des Schriftspracherwerbs, sondern auch LehrerInnen von I-Dötzchen wissen sollten. Man findet diese Vorlesung im Netz.
LehrerInnen, die unmittelbar und tagtäglich für die lernenden Kinder verantwortlich sind, dürfen sich aber durch Wissenschaftlichkeit nicht einschüchtern lassen. Sie sollten immer im Gedächtnis behalten: Das, was nur sie beobachten können, was sie spüren, ahnen und selber durchdenken und was dann in ihrem Unterricht unmittelbar handlungsleitend wird im Zeigen, Erklären, Nachfragen und Zutauen, ihr klar erkennbares, freundliches Auftreten und Zurücktreten als Person und Gegenüber wirklicher Kinder, entscheidet darüber, ob Kinder als Analphabeten zurückgelassen werden.
Ich bin sicher, Adrians verantwortungsbewusste Lehrerin in Erfurt ist es gelungen, ihm aus seiner Unsicherheit herauszuhelfen, weil sie ihm in seiner Klasse nach der Druckschrift frühzeitig die Schulausgangsschrift beigebracht hat und sie ausgiebig hat üben lassen.