Wir können den Kindern, die täglich zu uns in die Schule kommen, keinen großen Erfolg für ihr Leben versprechen. Viele, die im ersten Schuljahr voller Hoffnung vor uns sitzen, werden sich in einfachsten Lebensumständen bescheiden müssen, keine große Rolle spielen, nicht gehört werden, wenn über sie entschieden werden soll.
Trotzdem können sie eine eigene Stimme entwickeln, mit der sie von sich selbst, ihren Erfahrungen und Gedanken sprechen, mit eigener Hand auf Papier, auch später noch zeugend von Menschen, die schreibend sich ihrer selbst vergewissert haben.
Um so zu schreiben, braucht man Selbstvertrauen, Mut und eine Handschrift, die mühelos auf’s Papier fließt. Und damit alle Kinder, auch die verzagten und armseligen, so zu schreiben lernen, gibt es die Grundschule. Diesen Gedanken sollten wir über all unserer Kompetenzorientierung nicht aus Auge und Herz verlieren.
Vor kurzem habe ich „Die Berlinreise“ von Hanns-Josef Ortheil gelesen und allen davon vorgeschwärmt, weil man darin die Sicht- und Denkweise eines Kindes teilen kann. Ortheil ist 1964 als Zwölfjähriger mit dem Vater nach Berlin gereist. Unentwegt hat er notiert, was es da für ihn zu erleben, zu beobachten, zu durchdenken gab. Zurück in Köln hat er aus den Notaten ein Erinnerungsbuch für den Vater gemacht. Seit diesem Jahr ist es ein Buch für uns alle. Und viele Menschen wollen es lesen.
Ortheil hat sein genaues, autobiographisches Schreiben bei seinen Eltern gelernt, mit Übungen, wie sie auch die Schule kannte, als dort noch nicht Lückentexte Rahmen und Maß schriftlicher Äußerungen bestimmten. Spuren solcher Übungen finden sich in der „Berlinreise“ und auch in der „Moselreise“ von 2010 (seit 2012 auch als Taschenbuch). Etwa dieser Text aus Reihensätzen:
Papa nachmachen
Manchmal mache ich Papa nach.
Ich mache nach, wie er etwas isst oder trinkt.
Ich mache nach, wie er lacht.
Ich mache nach, wie er die Brille aufsetzt und Zeitung liest.
Ich mache Papa nach, weil er manchmal so komisch ist, und weil er es mag, wenn ich ihn nachmache.
Mama mache ich niemals nach. Mama ist nicht komisch.
Ein rührender Text, und sogar mit einer Pointe am Schluss! Der Text eines Elfjährigen.
Er erinnert mich an Reihensätze, wie meine ersten Schulkinder sie in ihre Hefte geschrieben haben, Dorfkinder im ersten und zweiten Schuljahr in festgeschraubten Bänken, achtundvierzig in einem Raum. Reihensätze zur gleichzeitigen Übung von Handschrift, Rechtschreibung, Grammatik und Beobachtung.
Da habe ich zum Beispiel am Morgen nach der ersten Schneenacht eine Überschrift an meine große Tafel geschrieben. Wir haben aus den Fenstern geschaut und aufgezählt, wo Schnee liegt. Und dann hat jedes Kind zuerst die Überschrift abgeschrieben und dann seine Sätze folgen lassen.
Schnee liegt überall
Schnee liegt auf der Straße.
Schnee liegt auf dem Zaun.
Schnee liegt auf dem Dach. …
Die Stimmung bei solchen Übungen ist mir unvergesslich: gesammelt und zunehmend fröhlich. Warum? Jedes Kind wusste, was es zu tun hatte, konnte die ersten Wörter jeden Satzes auf jeden Fall ganz richtig schreiben, schrieb sie von Satz zu Satz geläufiger, konnte eigene Beobachtungen festhalten, wurde der eigenen Umwelt immer deutlicher gewahr, freute sich auf den Heimweg im Schnee und die ersten Versuche am Rodelhang. Nachher haben wir geschaut, welche Sätze bei vielen Kindern vorkamen und welche selten waren. Frontal organisiert mit Melden und Abzählen. Da wuchs wohl schon in manchem Kind der Ehrgeiz, für die Hausaufgabe noch ganz besondere Beobachtungen zu sammeln und am nächsten Tag zu präsentieren.
In „Kunst“ wurde ein paar Tage später ein Dorf auf graues Papier gezeichnet und dann mit Pinsel und Deckweiß volllkommen zugeschneit. Erst hier und da und dort wie in unseren Reihensätzen, dann überall, bis keine Einzelheiten mehr zu sehen waren. Das war unsere Pointe.